ART

Custodia. 1) C. bedeutet in der Besitzlehre den Gewahrsam, d. h. eine solche Lage einer Sache, durch welche ihre Bewachung oder Verwahrung für ihren Besitzherrn möglich wird. Durch Erlangung der C. vollzieht sich der Besitzerwerb corpore (s. Corpus und Animus) und durch Aufrechterhaltung der C. wird er in körperlicher Weise bewahrt. Dig. XLI 2, 3, 3. 3, 13. Gai. II 67. Baron Jahrb. f. Dogmatik VII 59ff., bes. 83ff. Verwandt mit diesem Begriffe ist die erbrechtliche custodela, Fest. ep. p. 51 custodelam antiqui, quam nunc dicimus custodiam; vgl. Gai. II 104 und s. Testamentum. Viele Zweifel knüpfen sich an den Begriff C. bei verpflichtenden Verträgen. Der richtigen Meinung nach bezeichnet C. hier nur die Bewachung oder Verwahrung als Gegenstand der Vertragspflicht. Sie kann dabei in doppelter Hinsicht in Frage kommen (Leonhard Gutachten in den Verhandlungen des 17. deutschen Juristentags 354, 5. 375ff.). Es kann eine Bewachung gegen Entgelt etwa so versprochen sein, dass die Gegenleistung unterbleibt, wenn jene nicht geschieht, z. B. bei Annahme eines Wächters oder bei der Übernahme einer Pflicht für einen solchen zu sorgen, Dig. XIX 2, 40 u. 41. Es kann aber auch z. B. von den Gastwirten die Bewachungspflicht als eine blosse Nebenpflicht übernommen werden, Dig. IV 9, 5 pr. Hier kommt die Gegenleistung des Berechtigten nicht in Wegfall, wenn die Bewachung unterbleibt, aber dadurch kein Schaden geschieht. In beiden Fällen ist aber C. nicht etwa ein besonderer Haftungsgrad, sondern einfach ein Vertragsinhalt. Vielfach wird freilich in der Haftung für C. eine Steigerung der Haftung über das blosse Einstehen für culpa gesehen (vgl. Goldschmidt Ztschr. f. Hdlsr. XVI 353ff. Baron Archiv f. civ. Praxis LII 49. Windscheid Pand.⁷ § 401) und die [1897] Redeweise einiger Stellen legt eine solche Deutung allerdings nahe; vgl. z. B. Dig. XIII 6, 5, 15 et dolum et culpam et diligentiam et custodiam .... praestare debet; vgl. ferner Dig. XIII 7, 13, 1 venit autem in hac actione (sc. pigneraticia) et dolus et culpa ut in commodato venit et custodia, vis maior non venit. Trotzdem sind diese Stellen wohl dahin zu verstehen, dass die C. hier eine Nebenleistung bezeichnet, die neben der mit diligentia vorzunehmenden Hauptleistung (Rückgabe der verliehenen oder verpfändeten Sache) steht, nicht aber etwas von der diligentia Verschiedenes. Dass vielmehr die Pflicht zur C. von der Pflicht zur diligentia nicht grundsätzlich verschieden ist, ergiebt sich aus Dig. XVIII 6, 2, 1 custodiam autem ante admetiendi diem qualem praestare venditorem oporteat, utrum plenam, ut et diligentiam praestet, an vero dolum dumtaxat videamus. Hier ist klar ausgesprochen, dass die plena custodia nicht über die diligentia hinausreicht (vgl. auch für den Zusammenhang beider Begriffe Baron Archiv f. civ. Pr. LII 46ff.). Für die soeben erörterte Frage ist von Bedeutung, dass nach Dig. XIX 2, 41 jemand, der eine Bewachung übernommen hat, nicht blos für die eigene Schuld haftet, sondern auch für die schuldhafte Vertragsausführung durch den von ihm bestellten Wächter. Darin sehen die Vertreter der Ansicht, die den Verpflichteten für seine Gehülfen bei der Vertragsausführung grundsätzlich nicht haften lassen will, eine Ausnahme von der Rechtsregel. Vom Standpunkte der entgegengesetzten, richtigen Ansicht hat diese Entscheidung nichts Auffälliges an sich, s. über die erwähnte Meinungsverschiedenheit Art. Culpa.

Litteratur. S. die oben Genannten, ferner Pernice Labeo II 339ff. Engelmann Die custodiae praestatio nach römischem Rechte, Nördlingen 1887. Bruckner Die custodia nebst ihrer Beziehung zur vis maior nach römischem Rechte, 1889. Hellmann Münchener Krit. Vierteljahrsschrift XXXIV 45ff. Biermann Ztschr. d. Savignystiftung XII 33ff. Dernburg Pandekten⁵ II 103 § 37, 9. Leonhard Institutionen 390. 393, 1.
[R. Leonhard.]

Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft

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