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34) M. Antistius Labeo, Sohn von Nr. 35 (Pomponius Dig. I 2, 2, 44. Appian b. c. IV 135), geboren um 704 = 50 (Pernice Labeo I 9; [2549] vgl. ebenda A. 16 über den Vornamen), brachte es in der Ämterlaufbahn bis zur Praetur (Tac. ann. III 75. Porph. zu Hor. Sat. I 3, 82); das ihm von Augustus angebotene Consulat schlug er aus, wie es scheint aus verletztem Ehrgeiz, weil sein jüngerer und politisch gefügigerer Nebenbuhler C. Ateius Capito vor ihm (5 = 758) zu dieser Würde gelangt war (s. d. Art.). Pomponius a. a. O. 47: Ateius consul fuit; Labeo noluit, cum offerretur ei ab Augusto consulatus, quo suffectus fieret, honorem suscipere. Ein Widerspruch zwischen dieser Stelle und Tacitus (illi quod praeturam intra stetit, commendatio ex iniuria: huic, quod consulatum adeptus est, odium ex invidia oriebatur) braucht nicht angenommen zu werden: die iniuria ist durch den Vorzug Capitos genügend erklärt. Er starb vor 22 = 775, dem Todesjahr Capitos (Tac. a. a. O.; vgl. Gell. XIII 12, 1 und dazu Pernice 12f. Teuffel R. L.-G. 265, 1. Krüger Gesch. d. Quell. und Litt. d. R. R. 141), und nach 5 = 758, dem Consulatsjahr Capitos. Dass er das papisch-poppaeische Gesetz (9 = 762) noch erlebt habe, weil Stellen aus seinen Schriften auf dies Gesetz hindeuten (so Pernice, Krüger), ist nicht erweislich (s. u. bei 7 und 9). Auch wird man kaum aus Dig. XXIX 5, 1, 17 herauslesen können, dass er das SC Silanianum von 10 = 763 noch gekannt habe. Seiner politischen Stellung nach gehörte er zur republikanischen Partei, für die sein Vater bei Philippi gefallen war, und machte aus seiner Haltung auch dem Augustus gegenüber kein Hehl. Capito bei Gell. XIII 12, 1: agitabat hominem libertas nimia atque vaecors tamquam eorum divo Augusto iam principe et rem publicam obtinente ratum tamen pensumque nihil haberet nisi quod iustum sanctumque esse in Romanis antiquitatibus legisset; Tac.: incorrupta libertate; Porph.: memor libertatis in qua natus erat multa contumaciter adversus Caesarem dixisse et fecisse dicitur. Vgl. namentlich die Erzählung von seiner Wahl des Lepidus in den Senat bei Suet. Aug. 54. Dio LIV 15. Pernice 14ff. Karlowa R. R.-G. I 678.

Seinen ersten juristischen Unterricht genoss Labeo bei C. Trebatius Testa (Pomp. 47: institutus a Trebatio), ausserdem war er ein ‚Hörer‘ des A. Cascellius und Q. Aelius Tubero und wohl auch noch einzelner Schüler des Ser. Sulpicius Rufus (Pomp. 47 omnes hos audivit: dass man omnes auch auf die im § 44 genannten Servii auditores beziehen darf, ist deswegen wahrscheinlich, weil die Wirksamkeit einzelner dieser Männer sicher noch in Labeos Jugendjahre fällt); Sulpicius (gestorben 711 = 43) selbst dagegen war jedenfalls nicht mehr sein Lehrer (Pernice 10. Krüger 142, 8). Von Labeos eigener juristischer Thätigkeit erzählt Pomponius (47): totum annum ita diviserat, ut Romae sex mensibus cum studiosis esset, sex mensibus secederet et conscribendis libris operam daret. Der Unterricht, von dem hier die Rede ist, war jedenfalls ein praktischer: die Schüler waren als Hörer bei den Consultationen des Meisters zugegen (vgl. Dernburg Inst. d. Gaius 5, 10. Pernice 34 gegen Bremer Rechtslehrer und Rechtsschulen 17). Responsen Labeos werden oft erwähnt: Gell. XIII 10, 1 consulentibus de iure publice responsitavit; [2550] vgl. aus seinen Schriften frg. Lab. 354. 365. 368. 398; frg. Jav. 172 pr. 173, 4. 183 pr. 184. 185 pr. 186, 2. 4. 196, 1. 2. 4; auch hat er wahrscheinlich eine Responsensammlung herausgegeben (s. u. bei 10). Specielle Schüler Labeos werden nicht genannt, am ersten wird man seinen ,Nachfolger‘ Nerva (Pomp. 48), vielleicht auch noch Proculus (vgl. Pernice 84) dahin rechnen dürfen.

Als Schriftsteller war Labeo ausserordentlich fruchtbar: 400 Bücher (volumina) soll er hinterlassen haben (Pomp. 47), von denen gegen 500 Fragmente erhalten sind. Wir kennen folgende Werke:

1) De iure pontificio in mindestens 15 Büchern (Fest. p. 351a 7. 9); Macrob. Sat. III 10, 4 citiert allerdings Labeo sexagesimo et octavo libro, und es hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, wegen des unmittelbar vorher genannten Capito hier nicht an den sonst so häufig von Macrobius ausgeschriebenen Cornelius Labeo, sondern an unsern Antistius Labeo zu denken, den er allerdings wohl nicht aus erster Hand benutzt haben dürfte; vgl. Pernice 46f. Teuffel § 265, 2. Krüger 148, 13. Kahl Philol. Suppl. V 728; um die hohe Buchzahl zu vermeiden, schlägt Pernice vor zu lesen l(ibro) XVIII. Die grösstenteils aus Verrius Flaccus stammenden Fragmente (so Reitzenstein Verrianische Studien, bes. 49f. 54 gegen Müller in der Ausgabe des Festus XXIX. Dirksen Hinterl. Schriften I 69) s. bei Huschke Jurispr. anteiust. 110ff., Versuche, den Inhalt und Charakter des Werkes zu bestimmen bei Pernice 40ff.

2) Eine Schrift Labeos De officio augurum aus dem lückenhaften Text des Festus p. 290 a 13 herauslesen zu wollen (Rudorff R. R.-G I 179, 14. Teuffel § 265, 2), ist sehr gewagt; allerdings ist kurz vorher (Z. 10) Antis[tius Labeo] in einem sicher über Fragen des Auguralrechts handelnden Zusammenhange citiert, doch reicht das nicht aus, ein eigenes Werk Labeos über Auguralwesen anzunehmen: diese Stelle kann sehr wohl einer gelegentlichen Erwähnung in dem Pontificalrecht ihren Ursprung verdanken. Vgl. Pernice 45.

3) Ein Werk fasti will Wissowa (De Macrobii Saturnaliorum fontibus 28f.) dem Labeo zuschreiben und hierauf zurückführen Macr. I 16, 29 (Antistius statt Cornelius Labeo). Fest. 348 a 2. Lydus de mens. IV 20. Ihm hat Kahl (Philol. Suppl. V 728) zugestimmt.

4) (Commentarii, libri) ad XII tabulas in mindestens zwei Büchern (Gell. IV 15, 1); Überreste bei Lenel Pal. I 501 frg. 1–3. Vgl. Schöll Legis XII tab. rell. 34. Pernice 51. Krüger 143. Karlowa 683.

5) (Commentarii) ad edictum praetoris urbani (das erste Buch wird von Ulpian Dig. L 16, 19 citiert) und praetoris peregrini (Buch 30 bei Ulpian Dig. IV 3, 9, 4 a). Die hohe Buchzahl des letzteren Werkes ist auffallend: Mommsen z. d. St. will libro XXX posteriorum (vgl. u. bei 12) lesen; Pernice (57) vermutet, dass Labeo zuerst die grösstenteils identischen Bestandteile beider Edicte und am Schlusse die Besonderheiten des Peregrinenedicts behandelt habe. Aber unsere Kenntnis von dem Verhältnis der beiden Edicte zu einander (vgl. Pernice 57. Karlowa 469ff.) [2551] ist zu gering, um die Unmöglichkeit eines dreissigsten Buches zum Peregrinenedict behaupten zu können. Vgl. auch Rudorff Ztschr. f. R.-G. VI 442, 18. Huschke Röm. Studien I 351, 285. Krüger 144 Lenel Pal. I 501, 2. Karlowa 683. Dem Edictscommentar gehört eine sehr grosse Zahl der Citate aus Labeo in den Digesten an (zusammengestellt bei Lenel Pal. I 501–528 frg 4–191). Da sie aber bis auf ganz wenige (frg. 4–8) nur den Namen ihres Urhebers anführen, so lässt sich über die Einteilung des Werkes nichts Sicheres sagen; die Anordnung war natürlich durch das Edict gegeben.

6) Ein Commentar ad edictum aedilium curulium scheint zweifellos, obwohl der Titel dieser Schrift nirgends begegnet und auch nicht (mit Pernice 68) in dem über er die fugitivi handelnden Citat bei Ulpian (Dig. XI 4, 1, 5, frg. 6 L.) Labeo libro primo ad edictum ergänzt zu werden braucht (denn auch das praetorische Edict enthielt eine Rubrik de fugitivis, Lenel Ed. perp. 43; vgl. Pal. I 502, 4). Wir haben jedoch eine Anzahl von Stellen, die sich schwerlich anders denn als eine Interpretation von Worten des aedilicischen Edicts auffassen lassen: frg. 297–300. 397–399 L. Vgl. Pernice 68f. Huschke Jurispr. anteiust. 114, 2. Karlowa 683. Krüger 144, 26. Lenel Pal. I 544, 2.

7) Vielleicht schrieb Labeo auch einen Commentar ad legem Iuliam de maritandis ordinibus von 736 = 18). Das Fragment bei Ulpian ad l. Jul. et Pap. (Dig. XXIV 3, 64, 9, frg. 310 L.) de viro heredeque eius lex tantum loquitur, de socero successoribusgue soceri nihil in ea lege scriptum est: et hoc Labeo quasi omissum adnotat scheint einem Commentar zu den Worten des Gesetzes entlehnt; vgl. weiter frg. 243. 349; zweifelhafter frg. 332. 344. 348. 112. Dass derselbe sich aber auch auf die lex Papia Poppaea von 9 = 762 erstreckt habe (so Pernice 66f. Karlowa 683; vgl Krüger 141, 5. 142, 12), ist sehr fraglich. Keine der Stellen behandelt einen Gegenstand, von dem feststünde, dass er der lex Papia Poppaea angehörte.

8) In ähnlicher Weise lässt sich die Frage aufwerfen, ob Labeo einen Commentar ad legem Iuliam de adulteriis (von 736 = 18) geschrieben habe: auch hier ist uns eine Bemerkung Labeos zu den Worten des Gesetzes bei Ulpian (Dig. XLVIII 5, 24 pr., frg. 382 L.) erhalten: quod ait lex ,in filia adulterum deprehenderit’ non otiosum videtur: voluit enim ita demum hanc potestatem patri competere, si in ipsa turpitudine filiam de adulterio deprehendat: Labeo quoque ita probat. Aber es ist hier wie bei den die Lex Iulia de mar. ord. betreffenden Stellen die Möglichkeit einer gelegentlichen Erwähnung der Gesetze in einer andern Schrift nicht ausgeschlossen.

9) Einen wesentlich andern Charakter als die bisher erwähnten Schriften tragen die πιθανά des Labeo. Das Werk ist nach dem Erlass der Lex Iulia de mar. ord. (736 = 18; nicht 4 = 757, wie Lenel Pal. I 528, 2 behauptet) verfasst. Es heisst im frg. 209 (Dig. XL 7, 42): Si quis eundem hominem uxori suae legaverit et cum ea nupsisset liberum esse iusserit, et ea ex lege nupserit, liber fiet is homo. Das iulische Gesetz enthielt das Gebot der Wiederverheiratung der [2552] Witwe (Ulp. 14), das so sehr gegen die öffentliche Meinung verstiess und zu dessen Nichtbeachtung hier der Ehemann offenbar seine Frau durch das Vermächtnis veranlassen wollte. Wir sind also nicht gezwungen, mit Pernice (39) an die Lex Papia Poppaea von 9 = 762 zu denken. Der Index Florentinus führt an: Δαβεῶνος πιθανῶν βιβλία ὀκτώ. Ob diese Buchzahl auch dem Originalwerke entsprach, muss dahin gestellt bleiben, jedenfalls bezieht sie sich auf den Auszug des Paulus. Denn nur in dieser Gestalt war das Werk den Compilatoren Iustinians bekannt und abgesehen von zwei gelegentlichen Citaten (frg. 227. 228 L.) kennen auch wir es nur durch die Excerpte der Digesten aus dieser Epitome. Dieselben geben den Text Labeos mit einem kritischen, bisweilen hyperkritischen Commentar des Paulus; nur in wenigen kurzen Fragmenten (195. 206. 208. 209. 212. 215. 216) ist der Urheber nicht angegeben. Die Inscription lautet regelmässig Labeo libro I–VIII pithanon a Paulo epitomatorum; das Fehlen des den Auszug bezeichnenden Zusatzes bei einzelnen Fragmenten (194. 196. 198. 204. 205. 208. 209. 216) beruht auf Versehen der Schreiber, denn die meisten dieser Stellen (194–205) haben den Commentar des Paulus (so Pernice 35f. Krüger 143, 19. Lenel Pal. I 528, 3; abweichend Voigt Abh. d. sächs. Gesellsch. d. Wiss. VII 344ff. Karlowa 680). Das Werk enthielt kurzgefasste Rechtssätze, aber nicht in der theoretischen Fassung einer Regel (wie die Sententiae des Paulus), sondern als Entscheidung einer praktischen Rechtsfrage formuliert. Die Fassung ist in den sicher labeonischen Stellen überall die gleiche: in einem hypothetischen Vordersatz wird die Rechtsfrage eingeführt (z. B. frg. 220: si epistulam tibi misero), und die Entscheidung (non erit tua, antequam tibi reddita fuerit) ohne Belege, ohne Citate und ohne Polemik darangeknüpft. Das Werk war, wie auch sein Titel andeutet (vgl. Pernice 36f.), bestimmt, dem Praktiker kurze und einleuchtende Entscheidungen der gangbarsten Rechtsfragen an die Hand zu geben. Der Stoff gehört vorzugsweise, wenn nicht ausschliesslich, dem Civilrecht an, doch ist teilweise eine andere Disposition als die sonst auf diesem Gebiete übliche befolgt (vgl. Lenel Pal. I 528, 3. Voigt 346f.).

10) Responsa in mindestens 15 Büchern, aus denen nur ein Bruchstück (Lenel Pal. I 536f.; frg. 241) erhalten ist. Vgl. Pernice 61f. Karlowa 669.

11) Epistulae. Auch hier besitzen wir nur ein Fragment (Lenel I 528, frg. 192). Für die Conjectur Mommsens (zu Dig. XLI 3, 30, 1), Labeo libris posteriorum (vgl. u. bei 12) statt epistularum zu lesen, liegt ebenso wenig ein ausreichender Grund vor wie für die frühere Annahme (z. B. bei Rudorff 179), dass diese Schrift mit den eben erwähnten Responsen identisch sei. Vgl. Pernice 60f. 63. Karlowa 669.

12) Libri posteriores in mindestens 40 Büchern (Gell. XIII 10, 12). Sie führen ihren Namen davon, dass sie erst nach Labeos Tode herausgegeben wurden (ebd. post mortem eius editi). Von dem Werke werden bei Ulpian und Paulus das 4. 9. 27. 38. Buch angeführt (Lenel Pal. I 534f.; [2553] frg. 229–234), auch sonst begegnen Citate (frg. 235–240). Directe Citate haben die Digesten nicht, wohl aber grössere Stücke aus den von Iavolenus Priscus gefertigten Auszügen (Lenel Pal. I 299–315; frg. Iav. 160–234; vgl. den Artikel Octavius Iavolenus). Diese Excerpte tragen, wenn man von kleineren Abschreiberversehen (Pernice 70) absieht, einesteils die Inscription Labeo libro I–VI posteriorum a Iavoleno epitomatorum (sog. Labeoreihe, bei Lenel durch ein vorgesetztes [Labeo] gekennzeichnet), andernteils Iavolenus libro I–X ex posterioribus Labeonis (sog. Iavolenusreihe). Die Fragmente beider Reihen unterscheiden sich in mehreren wesentlichen Punkten: a) In der Labeoreihe spricht Labeo selbst, ohne dass dies Verhältnis durch ein inquit, ait oder dgl. angedeutet wäre. Ausnahmen kommen vor, sind aber selten (frg. 174. 203. 209 pr. 215, 5; auch mögen die Compilatoren Änderungen vorgenommen haben; in frg. 171 ist jedenfalls die Inscription verschrieben [vgl. Pernice 72]: es gehört der anderen Klasse an). In der Iavolenusreihe spricht der Epitomator und berichtet über Labeos Ansichten; nur selten (frg. 189, 2. 210. 225. 227, 3) werden seine Worte direct, aber auch dann immer als Citat des Iavolenus, wiedergegeben (vgl. auch Pernice 71). b) Die Fragmente der Labeoreihe enthalten nur selten Citate früherer oder zeitgenössischer Schriftsteller; wo sie vorkommen (frg. 172. 174. 176. 178. 208. 209. 221) sind sie spärlich. Die Iavolenusreihe weist regelmässig einen reichen Schatz anderer zustimmender oder abweichender Meinungen auf; nur in wenigen Stellen (frg. 161. 190. 192. 214. 234) fehlen sie, und diese meist sehr kurzen Fragmente sind ohne Frage aus ihrem Zusammenhange gerissen. c) In der Labeoreihe finden sich selten kritische Zusätze des Epitomators (nur frg. 176. 205. 209, 1), in der Iavolenusreihe bilden sie die Regel (fehlen nur frg. 161. 162. 175. 177. 188. 190. 192. 195. 214. 230. 231. 233. 234 und in manchen dieser kurzen Stellen mögen sie von den Compilatoren gestrichen sein). d) Zusätze oder Bemerkungen von Juristen nach Labeo und vor Iavolenus weist kein Fragment der Labeoreihe auf, die der Iavolenusreihe dagegen mehrfach (Sabinus: 211; Caecilius [Caelius?]: 225; Proculus: 165. 166. 173. 186. 225. 228; vgl. auch Aulus und Aristo in 162). e) Die Citate aus der Labeoreihe reichen nur bis zum 6. Buch, die der Iavolenusreihe weisen 10 Bücher auf (vgl. auch Index Flor.: Δαβεῶνος posteriorum βιβλία δέκα). Diese Verschiedenheiten legen den Schluss nahe, dass wir es mit zwei verschiedenen Auszügen Iavolens zu thun haben (so Pernice 80. Karlowa 681f. Krüger 163; anderer Meinung H. Pernice Miscell. 44f. Voigt Abh. d. sächs. Gesellsch. d. Wiss. VII 348ff. Lenel Pal. I 299, 4). Diese Ansicht findet eine gewichtige Unterstützung darin, dass die Fragmente der Iavolenusreihe von den iustinianischen Compilatoren in der Sabinusmasse, die der Labeoreihe in der sog. Nachtragsmasse excerpiert sind (Bluhme Ztschr. f. gesch. R.-W. IV 318ff. Krüger 163, 135; zweifelnd Pernice 78f.). Man wird aber noch einen Schritt weiter gehen können: die Verschiedenheit der Fragmente lässt nicht blos eine doppelte Bearbeitung durch Iavolenus vermuten, sondern man darf annehmen, dass [2554] ihm selbst schon zwei verschiedene Recensionen vorlagen. Das Werk ist von Labeo unvollendet hinterlassen: es ist leicht begreiflich, dass man den äusserst wichtigen und umfangreichen Nachlass des berühmten Juristen mehrfach bearbeitet hat. So erklärt es sich einerseits, dass die Anordnung des Stoffes innerhalb der beiden Reihen wenigstens im allgemeinen die gleiche ist, andererseits, dass die beiden Bearbeitungen doch so verschiedenen Charakter aufweisen. So lässt sich auch die Notiz des Gellius (XIII 10, 2), dass das 38.–40. Buch voll von Etymologien gewesen sei, mit den bei Ulpian (Dig. XLVIII 13, 11, 2–6, frg. Lab. 234 L.) aufbewahrten Citaten, wonach das 38. Buch ein Kapitel über die Lex Iulia de peculatu enthielt, dessen Reste nichts von jenen grammatischen Erörterungen aufweisen, vereinigen: beiden Autoren lagen verschiedene Recensionen vor. Zum Gegenstande hatten die Posteriores das Civilrecht, sie bildeten ein Gegenstück zum Edictscommentar. Ohne Frage hatte Labeo die einzelnen Materien, soweit sie überhaupt von ihm ausgearbeitet waren, bereits in eine gewisse Ordnung gebracht, und diese war im ganzen die der späteren Civilrechtswerke; wir können unterscheiden: Testament (frg. 160–168), Legate (169–193), testamentarische Freilassung (194–196), Kauf und Miete (197–215), anderweite actiones bonae fidei (?217–220), Dotalrecht (221–227); in der Iavolenusreihe folgen dann noch Vormundschaft (228), Delictsobligationen (229–232); vielleicht darf man aus frg. Lab. 234 wenigstens für die eine Redaction auf einen Anhang über öffentliches Strafrecht schliessen. Wichtige Materien des Civilrechts (Intestaterbfolge, Eigentumserwerb, Verbalcontracte) fehlen: den Grund hierfür wird man aber kaum in einem absichtlichen Übergehen suchen dürfen (so Pernice 75), sondern darin, dass Labeo starb, ehe er diese Partien in Angriff nehmen konnte. Vgl. Pernice 76. Leist Gesch. d. R. Rechtssysteme 56. Voigt 348ff. Teuffel § 265, 2. Karlowa 682. Krüger 144. Lenel Pal. I 299, 1. Lenel Sabinussystem 18f. 100 a. E.

Allen Werken Labeos lag ausser der reichen praktischen Erfahrung ein sehr eingehendes wissenschaftliches Studium zu Grunde. In erster Linie erstreckte sich dasselbe natürlich auf die zeitgenössischen Juristen: Alfenus Varus, Ofilius, Cascellius begegnen auf Schritt und Tritt; auch Aufidius Namusa beziehungsweise Servii auditores (frg. Lab. 351, 6; frg. Iav. 178, 1. 179. 186, 3), Ateius (frg. Iav. 172, 6. 185, 2. 221, 1), Cinna (frg. Iav. 186, 1), Blaesus (frg. Iav. 176), Mela (frg. Lab. 138. 294, 8?) werden erwähnt. Aber auch die älteren Juristen waren Labeo nicht unbekannt: es finden sich Brutus (frg. Lab. 1. 284?), P. Mucius Scaevola (frg. Iav. 227 pr.), Q. Mucius Scaevola (frg. Lab. 169, 8. 284? 361; frg. Iav. 171, 1. 196 pr.), Aquilius Gallus (frg. Lab. 341; frg. Iav. 171, 1. 196 pr.), Ser. Sulpicius (frg. Lab. 165? 190, 4. 5. 279. 295? 328? 342? 359. 362? 390. 393. 399; frg. Iav. 196 pr. 3. 208. 221 pr. 227 pr.; aus zweiter Hand: frg. Iav. 171, 2. 185, 2. 186, 3. 216, 3. 221, 1); vgl. auch die veteres in frg. Lab. 1. 240; wahrscheinlich gehört auch Fabius Pictor bei Festus p. 250 b 32 hierher: da nur dies eine Citat bei Festus begegnet, hat Verrius Flaccus diesen Schriftsteller wohl kaum aus erster [2555] Hand benutzt, während er für Labeos Pontificalrecht eine sehr wichtige Quelle bilden musste.

Labeos Bildung war indessen nicht eine einseitig fachmässige: auch auf andern Gebieten des Wissens hatte er sich umgethan und die dort gewonnenen Kenntnisse und Methoden für seine Jurisprudenz verwertet (Gell. XIII 10, 1. Pomp. 47). Es bedarf kaum der Erwähnung, dass diese Studien vor allem der griechischen Wissenschaft galten (Verwendung griechischer Ausdrücke zur Erklärung in seinen Schriften s. frg. Lab. 5. 10. 124. 126. 364, vgl. 159, 7; frg. Iav. 173, 3, vgl. 169). Vor allem beschäftigte er sich mit Philosophie, deren Methode der Begriffsbildung und Begriffszergliederung, die Dialektik, ja die Methode aller wissenschaftlichen Arbeit des Altertums geworden war (vgl. Gell. a. a. O.: dialecticam ... penetraverat). Häufig begegnen in seinen Schriften Definitionen (frg. Lab. 10. 13. 21. 22. 34. 86. 112. 133. 141. 228. 234, 2. 291. 298. 304. 325. 386. 397. 400; frg. Iav. 188, 3) und Distinctionen, d. h. Gegenüberstellung von Begriffen (frg. Lab. 5. 29. 78. 111. 124. 214; frg. Iav. 188, 1). Vgl. Pernice 23ff. Karlowa 679. Trotzdem darf man Labeo nicht als einen hervorragenden Systematiker bezeichnen (vgl. Pernice 19). Zwar begegnen auch bei ihm die seit Q. Mucius Scaevola üblichen Zergliederungen der Rechtsbegriffe in ihre einzelnen genera (frg. Lab. 390. 393, vgl. 127), aber den wirklichen dogmatischen Aufbau eines selbständigen Rechtssystems sucht man in seinen Fragmenten vergebens: die einzelnen Materien erscheinen auch bei Labeo noch als nebeneinander gestellte Gruppen, nicht als eine organische Gliederung. Hier war erst sein jüngerer Zeitgenosse Sabinus der grosse Neuerer. Ob Labeo einer bestimmten philosophischen Richtung angehört hat, ist aus seinen Fragmenten nicht zu ermitteln; den früher oft gemachten Versuch, ihn als Stoiker hinzustellen, hat man seit dem energischen Widerspruch von Borchert (Num Ant. Labeo stoicae phil. fuerit addictus, 1869) wohl endgültig aufgegeben. Vgl. Pernice 30. Krüger 142, 10.

Neben den philosophischen erwähnt Gellius (XIII 10) die antiquarischen und grammatischen Studien Labeos. Von beiden begegnen wichtige Spuren in seinen Werken. Für erstere genügt ein Hinweis auf seine Commentare zum Pontificalrecht und Zwölftafelgesetz (vgl. ausserdem frg. Lab. 20; frg. Iav. 227 pr.); für letztere kommen hauptsächlich die Etymologien in Betracht, von denen Buch 38–40 der Posteriores eine reiche Sammlung enthielten (Gell. XIII 10, 2; vgl. o. bei 12); auch in den anderen Schriften sind sie nicht selten (frg. Lab. 6. 7. 21. 111. 113. 124. 340. 364. 374; frg. Iav. 188, 3; wohl auch Fest. p. 249 b 28ff. posimerium). Pernice (27ff.) hat mit Recht darauf hingewiesen, dass in manchen dieser Etymologien eine juristische Tendenz zu erkennen ist: bei den Etymologien der Alten hat ja oft der Zweck die Mittel geheiligt. Teuffels Behauptung (§ 265, 1), Labeo habe zu den Puristen gehört (d. h. nur Erklärungen aus der lateinischen Sprache gelten lassen wollen), wird durch frg. Lab. 124 widerlegt. In neuerer Zeit hat Schanz (Philol. XLII 309ff.) Labeos grammatische Richtung genauer zu bestimmen gesucht und ihn als [2556] Analogisten bezeichnet, die dafür angeführten Belege können aber diese Ansicht nicht beweisen: Gell. XIII 10, 1 (Latinarumque vocum origines rationesque percalluerat) ist doch zu allgemein gehalten; bei Festus p. 253 a 9ff. heisst es, Labeo habe für den Plural penates einen Singular penatis anerkannt, obwohl die Analogie (proportio) von optimas, primas, Antias auch penas zuliesse (etwas weiteres kann meines Erachtens aus den Worten des Festus nicht entnommen werden). In Labeos juristischen Schriften wird man die Analogie jedenfalls vergebens als das treibende Element suchen. Natürlich hat er oft Analogieschlüsse gemacht, wie es jeder Jurist täglich thut (z. B. frg. Lab. 210. 242. 244. 246. 250. 256. 261; frg. Iav. 166 pr. 171 pr.), aber ebenso häufig weicht er von der Analogie ab und entscheidet nach der Zweckmässigkeit und den speciellen Verhältnissen des einzelnen Falles (z. B. frg. Lab. 206. 207. 249. 254. 255. 262. 270, 6. 279; frg. Iav. 165 pr. 171, 2).

Pomponius (47) berichtet von einem wissenschaftlichen Gegensatz des Labeo und Capito, aus welchem die Schulen der Proculianer und Sabinianer hervorgegangen seien: hi duo primum veluti diversas sectas fecerunt: nam Ateius Capito in his quae tradita fuerant perseverabat; Labeo ingenii qualitate et fiducia doctrinae, qui et ceteris partibus (F operis) sapientiae operam dederat, plurima innovare instituit (vgl. auch § 52 a. E.). Abgesehen von dieser Nachricht erfahren wir nur, dass die Politik beide Männer von einander schied (Gell. XIII 12. Tac. ann. III 75), und Labeos Starrsinn sowie Capitos geschmeidige Haltung gegenüber dem Kaiserregiment mögen eine scharf zutage tretende persönliche Abneigung zwischen ihnen hervorgerufen haben. Auf wissenschaftlichem Gebiete aber können wir in den Fragmenten Labeos und Capitos den von Pomponius geschilderten Gegensatz nicht verfolgen. Man kann gewiss behaupten, dass die römische Jurisprudenz dem Labeo viele Anregung und viele neue Gedanken verdankt, aber die Worte des Pomponius sind vorzugsweise von praktischen Neuerungen zu verstehen. Und hierfür wird man auf Labeos Seite höchstens die Thatsache anführen können, dass er (und auch nicht einmal als der erste) die Rechtsbeständigkeit der Codizille anerkannte (Inst. II 25 pr.). Noch viel vorsichtiger aber muss der erklärende Zusatz des Pomponius aufgenommen werden, welcher diese Vorliebe Labeos für Neuerungen auf die Vielseitigkeit seiner Bildung zurückführt. Gewiss ist dieses Urteil richtig, aber auch Capitos Schriften weisen umfassende Studien auf antiquarisch-historischem Gebiete auf (s. d. Artikel). So wird man zum mindesten behaupten müssen, dass die Notiz des Pomponius für uns uncontrolierbar ist. Die neueren Erklärungsversuche haben auch zum grössten Teil ihr Material nicht aus den Fragmenten Labeos und Capitos, sondern aus dem Schulgegensatz der Sabinianer und Proculianer entnommen. Die Frage, wie weit dieser auf unsere beiden Juristen zurückgeht, kann jedoch erst im Zusammenhang mit der Betrachtung der beiden Schulen erörtert werden (s. den Artikel Proculiani). Vgl. Pernice 81f. 90ff. Puchta Inst. I 253f. Kuntze Inst. II 267ff. Teuffel § 49, 5. Schanz Philol. XLII 314ff. (vgl. o.) Karlowa 663ff. Krüger 148.


[2557] Labeo stand schon bei seinen Zeitgenossen in hohem Ansehen, sogar sein Gegner Capito konnte ihm seine Anerkennung nicht vorenthalten (Gell. XIII 12, 1: In quadam epistula Atei Capitonis scriptum legimus Labeonem Antistium legum atque morum populi Romani iurisque civilis doctum adprime fuisse); Verrius Flaccus hat sein Pontificalrecht ausgiebig benutzt (vgl. o. bei 1). Auch die späteren Geschlechter haben ihn stets als einen der ersten Juristen anerkannt (vgl. Tac. ann. III 75: duo pacis decora. Gell. XIII 10, 1. Pomp. 47: maximae auctoritatis. Appian b. c. IV 135: Δαβεῶνος τοῦ κατ' ἐμπειρίαν νόμων ἔτι νῦν περιωνύμου). Eine Reihe von Auszügen, Noten und Commentaren entstand zu seinen Schriften. So schrieb Proculus Noten zu den Posteriores: vgl. Lenel Pal. II 166ff. frg. 34–37. Pernice 84 (o. bei 12); desgleichen Aristo: frg. Lab. 231. 232 (zu den Posteriores); vgl. auch frg. Lab. 169 (zum Edictscommentar); fraglicher ist frg. Lab. 316. Vgl. Pernice 87. Der Auszüge des Iavolenus aus den Posteriores und des Paulus aus den πιθανά wurde schon (o. bei 12 und 9) gedacht. Ausserdem werden Noten eines nicht näher zu bestimmenden Quintus zum Edictscommentar (frg. Lab. 35; vgl. Pernice 84ff. Krüger 144, 23) und eines Aulus (frg. Iav. 162 und 165 [Paulus]; vgl. Mommsen und Lenel z. d. St. Pernice 87. Krüger 145, 33), zu den Posteriores erwähnt. Im 2. Jhdt. waren Labeos Werke noch grösstenteils bekannt (Pomp. App. a. a. O.), Citate aus ihnen sind bei den Juristen dieser Zeit und im Anfange des 3. Jhdts. sehr häufig (vgl. Pernice 87f. Krüger 145, 34). Nach Paulus dagegen begegnet keine Spur einer directen Benützung mehr.
[Jörs.]

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