ART

60) C. Cassius Longinus zählte von väterlicher Seite den gleichnamigen Mörder Caesars (Nr. 59) zu seinen Ahnen (Tac. ann. XVI 7. Suet. Nero 37. Dio LIX 29) und war von mütterlicher Seite ein Enkel des Q. Aelius Tubero (Bd. I S. 537f.) und ein Urenkel des Ser. Sulpicius Rufus (Pomp. Dig. I 2, 2, 51). Er war Praetor urbanus etwa 27 n. Chr. (Dig. IV 6, 26, 7. XXIX 2, 99, wo schon Cuiacius Gaium statt sanctum gelesen hat; Girard Ztschr. d. Sav.-Stfg. XIV 27f. Anm. zieht auch Dig. XLII 8, 11 [vgl. dazu Lenel Ed. perp. 399, 1] und Dig. XLIV 4, 4, 33 hierher), Consul suffectus im J. 30 (CIL X 1233. Pomp. a. a. O., wo Quartino für Surdino verschrieben ist), sodann Proconsul von Asien 40–41 n. Chr.; der Kaiser Gaius soll damals seinen Tod beschlossen haben, aber sein eigener Untergang rettete den C. (Suet. Gai. 57. Dio LIX 29; vgl. Waddington Fastes d. prov. Asiat. nr. 80. Zippel Losung der cons. Proconsuln 22f.; da nach Dio Gaius den C. gefangen setzen liess und sein eigener Tod schon am 24. Januar 41 erfolgte, so muss C. schon im J. 40 in der Provinz gewesen sein). Unter Claudius finden wir ihn in den Jahren 45 und 49 als kaiserlichen Legaten in Syrien (Jos. ant. XX 1 ; vgl. XV 406ff. Tac. ann. XII 11f.; als nach dem Tode Herodes Agrippas I. im J. 44 Cuspius Fadus als Procurator nach Iudaea gesandt wurde, war noch C. Vibius Marsus Statthalter in Syrien, Jos. ant. XIX 363; C. kann also frühestens Ende 44 entsandt sein). In der Folgezeit scheint er sich dauernd in Rom aufgehalten zu haben, wiederholt wird sein Auftreten im Senat erwähnt, in dem er hohes Ansehen genoss (Tac. ann. XIII 48, J. 58. XIII 41, J. 59 [vgl. für die Datierung Mommsen R.-G. V 368, 1]. XIII 42ff., J. 61; vgl. Pomp. a. a. O.: plurimum in civitate auctoritatis habuit). Seiner politischen Stellung nach gehörte er zu der dem Nero so verhassten Aristokratie des Senats. Zwar ist er, soviel wir wissen, dem Kaiser niemals offen entgegengetreten; als aber Nero nach der Verschwörung des Piso im J. 65 jeden selbständigen Charakter zu beseitigen suchte, traf auch ihn zugleich mit dem jungen L. Iunius Silanus, dem Neffen seiner Gattin, der in seinem Hause aufgewachsen war, das Schicksal der Verbannung. Während aber den letzteren, der als Abkömmling des Augustus (Borghesi Oeuvr. V 197. Mommsen [1737] Eph. ep. I p. 64.) für einen Thronpraetendenten galt (Tac. ann. XV 52), unterwegs die Mörder ereilten, hielt der Kaiser den alten und bereits erblindeten C. für weniger gefährlich und begnügte sich mit dem Senatsbeschluss, der ihn nach Sardinien vertrieb (Tac. ann. XVI 7–9. 22. Suet. Nero 37. Pomp. a. a. O. 52). Erst Vespasian rief ihn zurück und unter dessen Regierung ist er dann auch gestorben (Pomp. a. a. O.) Er muss ein hohes Alter erreicht haben: da er im J. 30 n. Chr. Consul war, ist er spätestens 3. v. Chr. geboren, war also bei Vespasians Regierungsantritt (69) mindestens 72 Jahre alt. Von seinen Privatverhältnissen wissen wir, dass er ein grosses Vermögen besass (Tac. ann. XVI 7), und dass er mit einer Urenkelin des Augustus, der (Iunia) Lepida verheiratet war (Tac. ann. XVI 8; vgl. Borghesi V 195f. Mommsen Eph. ep. I p. 63).

C. war ein Schüler des Masurius Sabinus (Pomp. 51. Dig. IV 8, 19, 2), mit dem zusammen er die nach ihnen benannte Rechtsschule gründete (s. den Artikel Cassiani); sehr häufig werden beide von den Späteren zusammen genannt (frg. 6. 14. 17. 23. 28. 33–37. 39. 47. 48. 50–52. 54–56. 62. 64. 65. 67. 68. 71. 73. 76. 78, 13. 20. 27. 85. 91. 97. 100. 106. 108–111. 114. 118. 124. 125. 131–135. 137. 140–142; vgl. auch Epikt. Diss. IV 3). Als Respondent, der zweifellos auch das ius respondendi besass (darauf deutet auch iuris auctor bei Hygin. de gen. contr. S. 124, 4 Lachm.; Responsen werden erwähnt in frg. 17. 21. 28. 49. 51. 52. 64. 71. 75. 79. 83. 109. 112. 128), Rechtslehrer (vgl. Dig. IV 8, 40, wo Aristo als sein Schüler genannt wird) und Schriftsteller hat er sich einen Namen gemacht (Tac. ann. XII 12: ea tempestate [J. 49] Cassius ceteros praeminebat peritia legum; vgl. XIV 15 studium meum. Hygin. a. a. O. prudentissimus vir). Seine umfangreichen Werke waren schon den Compilatoren Iustinians nicht mehr zugänglich; die aus Citaten späterer Juristen erhaltenen Reste sind von Lenel Pal. I 109ff. zusammengestellt (über den Gaius noster in Dig. XLV 3, 39 s. den Artikel Gaius; dass neuerdings Longinescu Caius der Rechtsgelehrte, Berliner Diss. 1896, 62ff., es unternommen hat, unsern C. Cassius mit dem bekannten Gaius zu verselbigen, sollte man kaum glauben).

Das Hauptwerk des C. waren seine libri (commentarii) iuris civilis in mindestens 10 Büchern (Dig. VII 1, 70 pr.; Fragmente, in denen das Werk genannt wird, s. bei Lenel Pal. frg. 1–11; es gehören aber auch noch viele der Citate, in denen blos der Name des C. erscheint, hierher). Das Werk (allein oder zugleich mit anderen? vgl. Lenel Pal. I 277, 3) ist später von Iavolenus excerpiert worden, dessen 15 Bücher ex Cassio (so der Ind. Flor.) von den iustinianischen Compilatoren für die Digesten benutzt sind (Fragmente bei Lenel I 277ff.). In den hier erhaltenen Stellen lässt sich allerdings C. (aus Citaten oder Vergleichung mit anderen Bruchstücken) nur verhältnismäßig selten nachweisen (frg. Iav. 2. 12. 22, 1. 49. 55. 56, vielleicht auch 47), aber zweifellos gehört ihm noch viel mehr von diesem Material. Freilich nicht alles: denn auch eigene Ansichten des Iavolenus begegnen öfter (frg. Iav. 2. 9. 12. 22, 1. 32, 2; vielleicht auch 40, 2. 43 pr. [1738] 50). Da wir kein sicheres Unterscheidungsmerkmal haben, muss die Frage, was dem einen oder andern Juristen angehört, unbeantwortet bleiben; vgl. Lenel I 277, 3. Krüger 155. Von dem Verhältnis des Auszugs zum Original lässt sich nichts ermitteln, als dass das fünfte Buch bei Iavolenus (über Tutel) dem sechsten bei C. entsprochen hat (vgl. frg. Iav. 19. 20; Cass. 2). Behandelt wurden, wie es scheint, alle Gegenstände des Civilrechts, in den Auszügen des Iavolenus erscheinen auch einzelne Materien des praetorischen Rechts (frg. 16. 50–55. 64–69). Über die nur teilweise mit dem System des Sabinus übereinstimmende Anordnung s. Leist Vers. z. Gesch. d. R. Rechtssyst. 56. Voigt Abh. d. Sächs. Ges. d. W. VII 347f. Karlowa 692. Krüger 155. Lenel Pal. I 277, 3. Das Werk ist die Grundlage von Arbeiten späterer Juristen geworden: des Auszuges des Iavolenus wurde schon gedacht; ausserdem schrieb C.s Schüler Aristo (unter Traian) Noten dazu (vgl. frg. Cass. 4. 51; Arist. 9. 60). Über C.s Verhältnis zu Urseius Ferox s. den Artikel Urseius. Von sonstigen Schriften des C. findet sich nur eine Spur in frg. 78, 27: Cassius apud Vitellium (unter Augustus) notat.

Neuere Litteratur: Zimmern Gesch. d. R. Pr.-R. I 316ff. Rudorff R. R.-G. I 169f. Teuffel R. L.-G. § 298, 3. Karlowa. R. R.-G. I 691f. Krüger Quell. u. Litt. d. R. R. 154f.
[Jörs.]

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