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2) Als Persönlichkeit erscheint B. zunächst im Kult (vgl. Welcker Kl. Schr. III 58). Bereits in der Ilias (ΧΧΙII 193ff.) betet Achilleus, als der Scheiterhaufen des Patroklos nicht brennen will, zu Β. und Zephyros und verspricht ihnen Opfer (von Stengel Herm. XVI 1881, 341ff. ganz mit unrecht für einen phoinikischen Zug erklärt, [722] vgl. Tümpel oben Bd. I S. 2179). In Titane befanden sich vier Opfergruben für die vier (dem Epos allein bekannten) Winde, also eine davon für Β. (Paus. II 12, 1). In Herakleia gab es eine φυλὴ Βορεΐς, was auf einen Kult des B. hinzudeuten scheint (Bull. hell. ΧIII 1889, 317). Das Heer des Xenophon bringt dem B. Schlachtopfer dar, damit sich der Nordsturm lege (Xen. anab. IV 5, 3f.). Ein Gebet an B. ist in der orphischen Hymnensammlung erhalten (Hymn. 80: θυμίαμα λίβανον). Weihung an B. aus Pola (Boriae v. s. l. m.) CIL V 7 (in Istrien heisst der dort besonders heftige Nordsturm noch heutzutage Bora; zu der Namensform mit i vgl. die Inschrift des unten angeführten Vasenbildes). Eine Anzahl anderer Kulte sind bei einer bestimmten historischen Veranlassung gegründet, so in Athen am Ilisos: Orakel an die Athener, den γαμβρός zu Hülfe zu rufen, von jenen auf die Sage von B. und Oreithyia (s. u.) gedeutet; sie rufen diese beiden zu Hülfe, und als die persische Flotte zerstreut wird, errichten sie dem B. ein ἱερόν am Ilisos (Herodot. IV 189, vgl. Paus. I 19, 5. VIII 27, 4. Ael. de nat. an. VII 27; Altar, Plat. Phaidr. 229 C); seitdem gilt B. als κηδεστής der Athener (Ael. var. hist. ΧII 61), und in Erinnerung hieran lässt Nonnus (Dion. XXXIX 174ff.) den Erechtheus seinen γαμβρός um Hülfe angehen und ihm nachher zum Dank ein Fest mit Gesängen feiern (ebd. 209ff.); die thatsächliche Existenz eines solchen Festes bezeugt Hesych. s. Βορεασμοί (vgl. dazu M. Schmidt). In Nachahmung des attischen Kultes stiftete man dem B. auch in Thurioi zum Dank für Hülfe gegen Dionysios einen Kult (Epiklesis Εὐεργέτης, Opfer, Ehrenbürgerrecht, Haus und Land, Ael. var. hist. XII 61). Einen ähnlichen Anlass (Hülfe gegen Agis) hat der Kult in Megalopolis (τέμενος und jährliches Opfer, Paus. VIII 36, 6).

Im Mythos gilt B. als Sohn des Astraios und der Eos, Hes. Theog. 378ff. Philoch. (Synkell. p. 161 A). Hyg. praef. (rationalistisch Sohn des Strymon, Heragoras FHG IV 427, 4); seine Brüder sind Zephyros, Notos und Euros (dafür Argestes Hes. Theog. 378ff.), Od. V 295f., vgl. Hyg. praef. (die anderen Winde stammen nach Hes. Theog. 869ff. von Typhoeus). Sein Wohnsitz ist hoch im Norden, in Thrakien, Tyrt. frg. 12 (PLG⁴ II 17f.). Akus. Schol. Od. XIV 533. Philoch. a. a. O. Orph. H. LXXX 2; bereits in der Ilias (ΧΧIII 229f.) sind die Winde am thrakischen Meer zu Hause, wo sie im Hause des Zephyros schmausen (ebd. 201f.). Der Wohnsitz des B. in Thrakien wird verschieden localisiert: zunächst in der Gegend des Strymon (Στρυμόνιος, Kallim. Hymn. Del. 26, vgl. oben: Sohn des Strymon; Sithonius, Ovid. Heroid. XI 13; Edonus Verg. Aen. ΧII 365; seine Burg auf dem Pangaion, Val. Flacc. Arg. I 575), oder weiter westlich (bei der ὕλη Βιστονίη, Orph. Arg. 679; bei den Kikonen, Ovid. met. VI 707ff.), und nördlicher bei den Odrysen (Odrysius, Sil. Ital. VII 570), endlich hoch im Norden in dem abschliessenden Haimosgebirge (Kallim. Hymn. Art. 114f.); dort haust er an der πέτρα Σαρπηδονία (Simonides und Pherek. bei Schol. Apoll. Rhod. I 211), am mythischen Bergzug der Rhipaien (Plin. n. h. IV 88. Strab. VII 295. Val. Flacc. Arg. II 516), in einer Höhle [723] (Soph. Ant. 981. Sil. Ital. VIII 514. Schol. Apoll. Rhod. I 826. [Plut.] de fluv. XIV 5) mit sieben Klüften (ἑπτάμυχος, Kallim. Hymn. Del. 62ff.), wo die Welt verriegelt ist (γῆς κλεῖθρον, Plin. n. h. VII 10), jenseits des Meers am Ende der Welt, wo die Quellen der Nacht sind und der Himmel offen steht, wo Phoibos alter Garten liegt (Soph. frg. inc. 870 N.²); dort wohnen die seligen Hyperboreer, und von ihnen weht er herüber (Serv. Aen. X 350. XII 366). So macht ihn Lucan (Phars. V 603) geradezu zum Skythen (vgl. Geticis in antris Sil. Ital. VIII 514), und die Phantasie des Verfassers von [Plut.] de fluv. V 3 versetzt ihn gar mit einem artigen Märchen auf den Kaukasos. Im allgemeinen jedoch gilt er für einen Thraker, auch bei der rationalistischen Mythendeutung (Heragoras FHG IV 427, 4, vgl. Ovid. Heroid. XV 343f. Schol. Pind. Pyth. IV 324), oder auch, da ihn Pindar (Pyth. IV 181) König der Winde nennt, für einen thrakischen König (Eustath. Dion. Perieg. 423 [Geogr. gr. min. II 295]. Herakleit d. incred. 318 Westerm.); Zetes und Kalais (s. u.) kommen aus Thrakien (Apoll. Rhod. I 213) oder von den Hyperboreern (Duris und Phanodikos Schol. Apoll. Rhod. I 211; Daulis nennt Herodor. ebd.). In der Vorstellung des Volkes lebte er als geflügelter Mann mit wildem Haar und Bart, wie die Kunstdarstellungen zeigen. In der Litteratur heben erst römische Dichter (Ovid. met. VI 707; trist. III 10, 45) die Beflügelung hervor; doch ist dies nur eine zufällige Lücke der Überlieferung, da die Beflügelung der Boreaden schon von Pindar (Pyth. IV 182f.) erwähnt wird, vgl. Apoll. Rhod. I 219ff. II 188ff. Apollod. I 9, 21, 5. III 15, 2. Orph. Arg. 221. Antip. Anth. Pal. IX 550. Ovid. met. VI 713ff. (die Flügel wachsen erst im Ephebenalter). Hyg. fab. 14. Serv. Aen. III 209 (= Myth. Vat. I 27. II 142); nach Onomakritos (Paus. I 22, 7) hatte B. dem Musaios die Gabe zu fliegen verliehen. Er steht im Dienste des Poseidon (Od. V 295) oder des Zeus (Od. IX 67ff.); seine Schnelligkeit wird hervorgehoben, Tyrtaios frg. 12, Soph. Ant. 983 (?μιππος). Das letztgenannte Beiwort deutet schon auf eine zweite Vorstellung des B. hin, als Ross. Wie Zephyros nach II. XVI 149ff. auf der Wiese am Okeanos in Rossgestalt mit der Harpyie Podarge die Rosse des Achilleus, Xanthos und Balios, zeugt, so begattet B. nach Il. XX 219tf. als dunkelmähniges Ross die Stuten des Dardanossohnes Erichthonios und zeugt mit ihnen zwölf Fohlen, die über die Spitzen der Fruchthalme und der Wellen dahinzueilen vermögen. Spätere Dichter haben diese Erzählung wiederholt nachgeahmt, so Quint. Smyrn. VIII 241ff. (die vier Rosse des Ares von B. und der Erinys erzeugt), Nonn. Dion. XXXVII 154ff. (B. zeugt mit der Harpyie Sithonie die Rosse Xanthos und Podarkes, die er später dem Erechtheus schenkt), vgl. auch Quint. Smyrn. I 166f. (Oreithyia schenkt der Penthesileia ein Ross, das an Schnelligkeit mit den Harpyien wetteifert).

Am bekanntesten ist die Verbindung des B. mit Oreithyia, einer Tochter des attischen Königs Erechtheus (Soph. Ant. 980. Akus. Schol. Od. XIV 533. Apoll. Rhod. I 211f. mit Schol. Apollod. III 15, 1, 2. Diod. IV 43, 3. Hyg. fab. 14. Myth. Vat. II 142; des Kekrops, Schol. Apoll. Rhod. I 211) und der Praxithea (Apollod. II 15, 1, 2); ihre [724] Schwestern sind Kreusa und Prokris (Schol. Apoll. Rhod. I 211), zu denen Apollod. III 15, 1, 2 noch Chthonia und die Brüder Kekrops, Pandoros, Metion fügt, B. raubt die Königstochter nach älterer Sage am Brilessos, von wo aus der Nordwind Athen trifft (Simonid. Schol. Apoll. Rhod. I 211), als sie dort an der Quelle des Kephisos Blumen pflückte (Choirilos ebd.). Die Errichtung des Kultus am Ilisos kann eine Übertragung der Sage dorthin zur Voraussetzung oder zur Folge gehabt haben; jedenfalls verlegte man den Ort des Raubes später allgemein an den Ilisos bei Agrai, wo sich der Kult befand; dort hatte Oreithyia gespielt (Plut. Phaidr. 229 Bff. [mit Pharmakeia]. Apollod. III 15, 2. Paus. I 19, 5. Schol. Apoll. Rhod. I 211) oder getanzt (Apoll. Rhod. I 215. Philostr. Vit. Apoll, IV 21, 3), vgl. auch Dion. Perieg. 425 mit Eustath. Orph. Arg. 220. Stat. Theb. XII 630f. Nonn. Dion. XXXIX 190ff. Myth. Vat. II 142 (wenn eine Glosse des Platontextes den Areiopag hinzufügt, so dient das nur zur näheren Bestimmung und ist keine besondere Localisierung: zwischen Areiopag und Akropolis pfeift der Nordwind zum Ilisos hinüber); vereinzelt ist die Angabe des Akusilaos (Schol. Od. XIV 533), Oreithyia sei geraubt worden, während sie als κανηφόρος der Athene Polias auf der Akropolis opferte. Aischylos hatte in seiner Oreithyia (frg. 281 Ν.², danach Ovid. met. VI 682ff., vgl. Welcker Aesch. Tril. 564) gedichtet, dass B. zuerst bei Erechtheus um Oreithyia angehalten habe; dieser habe ihm aber als einem Thraker in Erinnerung an den Thraker Tereus die Tochter versagt; darauf habe sich B. seiner natürlichen Wildheit erinnert und das Mädchen geraubt. B. bringt die Geliebte nach Thrakien (Akus. a. a. O.), zur Σαρπηδονία πέτρα (Apoll. Rhod. I 216. Schol. zu v. 211), zu den Kikonen (Ovid. met. VI 682ff.), wo sie seine Gattin wird und ihm die Söhne Zetes und Kalais (Akus. a. a. O. Apoll. Rhod. I 211 u. Schol. Apollod. III 15, 2. Orph. Arg. 219ff. Ovid. met. VI 712ff. Hyg. fab. 14. Serv. Aen. III 209. X 850) und Haimos (Steph. Byz. s. Αἷμος) schenkt, und die Töchter Kleopatra (Gemahlin des Phineus, Apoll. Rhod. II 188ff. Diod. IV 43, 2. Apollod. III 15, 2. Schol. Apoll. Rhod. I 211 [älteste Tochter]. Serv. Aen. III 209), Chione (Apollod. III 15, 2. Schol. Apoll. Rhod. I 211; Mutter des Thrakers Eumolpos, Hyg. fab. 157. Paus I 38, 2), Chthonia (Schol. Apoll. Rhod. I 211); über Erichtho s. u.

Weiter ist B. durch die Phineusepisode auch mit den Argonautensagen verflochten: seine Tochter Kleopatra ist Gemahlin des Phineus. In der ältere Version der Phineussage, auf die kurz einzugehen hier geboten ist (vgl. Festschr d. Univ. Heidelberg z. Begrüss. d. 36. Philol.-Vers., Karlsruhe 1882, 109ff. [F. v. Duhn] und den Artikel Phineus) spielt B. persönlich keine Rolle: Phineus weissagt den Menschen Zukünftiges und wird deshalb von den Göttern geblendet (Apoll. Rhod. II 188ff. Apollod. I 9, 21, 2); oder er weissagt den Söhnen des Phrixos die Einzelheiten ihrer Fahrt und wird deshalb entweder von Poseidon geblendet (Apollod. I 9, 21, 2), oder Zeus lässt ihm die Wahl, ob er erblinden oder sterben wolle; er wählt das erstere, und der erzürnte Helios schickt ihm die Harpyien (Schol. Apoll. Rhod. ΙI 181); [725] die Argonauten Zetes und Kalais (Pind. Pyth. IV 181ff. Akus. Schol. Od. XIV 533. Apoll. Rhod. I 211. Apollod. I 9, 16, 7. III 15, 2. Orph. Arg. 218ff. Hyg. fab. 14) befreien dann nach Schicksalsfügung bereitwillig ihren Schwager von der Plage (Apoll. Rhod. II 188ff. Apollod. I 9, 21, 5. III 15, 2. Hyg. fab. 14). Phineus erscheint hier in dem Lichte eines milden Sehers, eine dem Prometheus, Atlas, Tantalos ähnliche Gestalt, und es ist beachtenswert, dass sich wenigstens eine Spur erhalten hat, nach der er ursprünglich in Arkadien heimisch war (Serv. Aen. III 209 = Myth. Vat. I 27. II 142), also mit dem Kreis der Argonauten nichts zu thun hatte. Ein völlig anderes Bild zeigen die übrigen Versionen; sie setzen eine durchgreifende, wohl in der Periode der Lyrik vollzogene und dann durch dramatische Bearbeitung verschärfte Umarbeitung voraus: Phineus wird hier für verbrecherisches Wüten gegen die eigenen Söhne geblendet; Kleopatra schenkte ihm zwei Söhne (Plexippos und Pandion, Apollod. III 15. 3), die ihrer Stiefmutter Idaia, einer Tochter des Dardanos, ein Dorn im Auge sind. Die einfachste Erzählung lässt sie selbst die Stiefsöhne blenden: sie gräbt ihnen mit ihrem Webeschiff die Augen aus (Soph. Ant. 976. Schol. Apoll. Rhod. I 211, nach lyrischer Quelle?); wie hier das Schicksal des Phineus angeknüpft war, wissen wir nicht. Gewönnlich jedoch wird das schon dem Epos bekannte, aber im attischen Drama besonders beliebte Potipharmotiv verwendet, was in der Anwendung auf zwei Söhne ziemlich ungeschickt erscheint: Dionysios Skytobrachion erzählt, Idaia habe die Söhne bei Phineus verleumdet, dass sie ihr nachstellten; darauf habe Phineus die Söhne geblendet und sei zur Strafe von deren Grossvater B. wieder geblendet worden (Diod. IV 44, 4. Apollod. I 9, 21, 2. III 15, 3. Schol. Apoll. Rhod. I 211; vgl. Bethe Quaest. Diod. mythogr., Diss. Gott. 1887, 17); Varianten: 1) Phineus blendet die Söhne und lässt sie bei einem Felsen am Gestade aussetzen, die Boreaden blenden dafür den Phineus, den B. nach dem bistonischen Wald entführt (Orph. Arg. 671ff.); 2) Phineus lässt die Söhne am Gestade fesseln und auspeitschen; sie werden von den Boreaden befreit; es kommt zur Schlacht, in der Phineus von Herakles getötet wird; die Söhne werden zu Herrschern eingesetzt, Kleopatara aus dem Kerker befreit, Idaia aber zu ihrem Vater zurückgeschickt, der sie zum Tode verurteilt (Diod. IV 43, 3ff.). Diese Version mit ihren Varianten, die Phineus als Verbrecher erscheinen lässt und mit seiner Bestrafung endigt, steht der älteren Auffassung, die mit seiner Befreiung endigte, diametral gegenüber. Zuletzt erfolgt ein unorganischer Compromiss beider Versionen: Phineus blendet die Söhne, dafür blenden ihn die Götter, oder B., der ihn nach den insulae pelagiae entführt (Zeus selbst blendet ihn Myth. Vat. III 5, 5), und schicken ihm die Harpyien, die ihm die Speisen rauben und den Schlaf stören; er weissagt den Argonauten, dafür schicken sie die Boreaden gegen die Harpyien aus, und diese verfolgen die Unholde bis zn den Strophaden (Serv. Aen. III 209 = Μyth. Vat. Ι 27. II 142). Endlich noch zu erwähnen das angebliche Grab der Boreaden auf Tenos (über ihren Tod durch Herakles und die Veranlassung desselben [726] vgl. Artikel Kalais), dessen Grabsteine sich beim Wehen des B. bewegen (Apoll. Rhod. I 1307 mit Schol. Hyg. fab. 14).
Sonstige mythische Beziehungen des B. Als Kinder des B. werden noch genannt Butes und Lykurgos (Diod. V 50, 2, vgl. Art. Butes); die Hyperboreerinnen Upis, Loxo und Hekaerge (Kallim. Hymn. Del. 291ff.); die Aurai (Quint. Smyrn. I 683fE); drei riesige Söhne der Chione (sonst Tochter des B., s. o.) und des B. und deren Nachkommen, Apollonpriester und Könige bei den Hyperboreern (Hekataios von Abdera bei Diod. II 47, 7. Ael. d. nat. an. XI 1); Hyrpax, Sohn der Chione und des B. ([Plut.] d. fluv. V 3). Über die Rolle des B. in der Geburtslegende des Apollon s. o. Bd. II S. 22, 44. Pan und B. Nebenbuhler in der Liebe zur schönen Pitys (Westermann Mythogr. 381). Übertragung der Sage vom Tode des Hyakinthos von Zephyros auf B. (Serv. Ecl. III 63 = Myth. Vat. I 117. II 181). Den von Paus. frg. 4 (FHG III 469) erwähnten antiochenischen Giganten Pagras mit B. zu identificieren (Preller-Robert I 475, 1), genügt die Stelle Aristot. ?νέμ. θέσ. 973 a 1 Bkk. nicht: dort wird gesagt, in Mallos heisse der Nordwind Παγρεύς, weil er von den ὄρη Παγρικά her wehe; wenn also die Antiochener von einem Giganten Πάγρας fabelten, so ist damit schwerlich der sonst nirgends als Gigant bekannte B. gemeint, sondern der Bergriese des genannten Gebirges.

Kritik der Sage. Die Bedeutung der Gestalt des B. bedarf im allgemeinen keiner Erläuterung; nur über ihre mythische Verwendung sei noch ein Wort gesagt. Dieselbe wurzelt, soweit sie als wirklich sagenhaft betrachtet werden darf und nicht auf secundärer dichterischer Erfindung beruht, in dem Bannkreis des ionischen Geistes; auf die Wogenrosse des Meerbeherrschers Erichthonios (= Poseidon Erechtheus) stürzt sich der Nordwind und befruchtet sie; wie der Wind vermögen seine Kinder auf des Kornes und des Meeres Wellen dahin zu eilen. Erichthonios-Erechtheus ist ein Beiname des ionischen Poseidon (v. Duhn a. a. O. 122f.); so heisst seine Enkelin, die Tochter des B. und Gattin des Phineus (sonst Kleopatra genannt) auf der ionischen Phineusschale (Mon. d. Inst. X 8. Wiener Vorlegebl. C VIII 3) Ἐριχθώ. Sie ist die ursprüngliche und echte Gemahlin des Phineus die böse Idaia ist erst aus ihr entwickelt (Erichtho muss als Enkelin des Erichthonios zum Geschlecht des Dardanos gerechnet werden, Idaia ist Tochter des Dardanos). Am festesten haftet die Sage aber in Attika, wo auf der Burg von Athen der alte Kult des Poseidon Erechtheus bestand. Das Meermädchen Oreithyia (Il. VIII 48, vgl. Serv. Aen. X 350: Orithyia nympha und ihre Verwandlung in ein Ross in der delischen Gruppe, s. u.) wird zur Tochter des zum König gewordenen Erechtheus. Älter als der Kult am Ilisos (wenn er wirklich erst auf das Ereignis der Perserkriege zurückgeht) ist die Rolle des B. in der attischen Sage; jedenfalls älter als die angebliche Stiftung des Kultes sind die streng-rf. Vasenbilder (s. u.); ferner ist Butes, der Ahnherr des Geschlechtes der Eteobutaden, der Priester des Poseidon Erechtheus, nach einer (freilich von ihnen nicht anerkannten) Version Sohn des B., ist auch mit diesem durch seine [727] Gattin Chthonia verbunden, vgl. Toepffer Att. Geneal. 113ff. und Artikel Butes. Das sind alles keine späten Erfindungen; wer die Nordstürme des Frühjahrs in Athen erlebt hat, begreift die Rolle, welche B. in der attischen Sage spielt. Vgl. auch den Artikel Anemoi.
Kunstdarstellungen. Litterarisch überliefert sind zwei Darstellungen des B.: die geraubte Oreithyia in den Armen haltend, war er nach Paus. V 19, 1 am Kypseloskasten dargestellt. Aber hier ist wohl ein Irrtum des Periegeten anzunehmen: der angebliche B. hatte statt der Beine Schlangenschwänze, war also wohl jener auf korinthischen Vasen so häufig dargestellte, gewöhnlich Typhon genannte Unhold (so Robert bei Hiller v. Gaertringen De Graecor. fabul. ad Thraces pertinentib., Diss. Berol. 1886, 7f. und Preller-Robert I 472, 1); eine derartige Darstellung wäre für einen Windgott völlig unerklärbar, und vergeblich hat Loeschcke (B. und Oreithyia am Kypseloskasten, Progr. Dorpat 1886), auf v. Duhns Darlegungen fussend, die Möglichkeit ihrer Entstehung durch bildliche Tradition darzuthun versucht. Auch die von Toepffer (Att. Geneal. 115, 2) als Analogie angeführte Vorstellung des Erechtheus als οἰκουρὸς ὄφις im Erechtheion ist unzutreffend. Die zweite litterarisch überlieferte Darstellung scheint ein Gemälde des Zeuxis zu nennen (Lukian. Tim. 54); danach war B. dort so dargestellt, wie wir ihn schon auf den Vasen des 5. Jhdts. finden, mit breitem Bart, hochgezogenen Augenbrauen, gesträubtem Haar; das βρενθνόμενος könnte man von einer Andeutung des Blasens verstehen, und danach Aristot. d. mot. anim. 2 (ἐξ αὑτοῦ γὰρ πνεῦμα ἀφιέντα γράφουσιν) hierher beziehen.

Erhalten sind uns zahlreiche rotfigurige Vasenbilder, alle den Raub der Oreithyia darstellend (vgl. Gerhard Auserl. Vasenb. III 13. Welcker Alte Denkm. III 144ff. Stark Ann. d. Inst. 1860, 320ff. Stephani Boreas u. d. Boreaden [Mém. de l’acad. de St. Pétersb. VII Sér. XVI 1871] 8ff.). Meistens ist B. noch in der Verfolgung begriffen; auf Vasen des strengen Stils: 1) Amphora, einst bei Basseggio in Rom (Welcker Alte Denkm. III 185, 7). 2) Stamnos, früher Samml. Chiai in Chiusi (Ann. d. Inst. 1860 tav. LM), jetzt Berlin 2186 (die Irrtümer der Abbildung im Katalog verbessert). 3) Stamnos Durand 211 (Raoul-Rochette Mon. Inéd. pl. XLIV B). 4) Kelebe, einst in Florenz, Samml. Pizzati (Gerhard Auserl. Vasenb. III 152, 3. 4). 5) Hydria im Vatican (Gerhard a. a. O. 1. 2. Wien. Vorlegebl. II 9, 2; vgl. Helbig Führer II 259, 101). 6) Hydria in S. Maria di Capua, Samml. Simmaco Doria (Mon. d. Inst. VIII 17). 7) Schale, einst in London bei Miss Gordon (Gerhard Auserl. Vas. III S. 13 nr. K). 8) Oinochoe im Brit. Mus. 870 (Durand 213). 9) Vase unbekannter Form, einst im Besitze des Marschalls Soult (Millin Peint. d. vas. II 5 = S. Reinach Bibl. des mon. flg. II); auf Vasen des älteren schönen Stils: 10) Nolan. Amphora in Neapel, Mus. Naz. 3125. 11) Stamnos, einst bei Castellani (Bull. d. Inst. 1865, 216). 12) Kelebe in München 748. 13) Hydria in Neapel, Mus. Naz. 3139 (Mus. Borb. V 35, 3 [IV 64, 3], 14) Hydria im Berl. Mus. 2384. 15) Hydria (?) der zweiten Hamilton-Sammlung [728] (Tischbein III 31. Millin Gal. Myth. 80, 314. Hirt Bilderb. II 18, 2). 16) Pyxis der Arch. Gesellsch. in Athen (Heydemann Griech. Vasenb. Taf. I 1). 17) Lekythos in Neapel, Mus. Naz. 3352 (Bull. Nap. N. S. V tav. 2). 18) Oxybaphon des Louvre (Cat. Campana I 4–7, 78); auf Vasen des späteren schönen Stils: 19) Amphora im Mus. zu Palermo (Arch. Ztg. XXIX 1871 Taf. 45, 48). 20) Pelike, einst in der Samml. Calefatti zu Nola (Arch. Ztg. III 1845 Taf. XXXI 1), jetzt zu Paris im Cabinet des Médailles, vgl. Heydemann Pariser Antiken 76. 21) Pelike, einst in der Samml. Calefatti zu Nola (Arch. Ztg. III 1845 Taf. XXXI 2). 22) Hydria, einst in der Samml. Hertz zu London (Arch. Anz. IX 1851, 120*). 23) Bruchstücke einer Schale im Albertinum zu Dresden (Arch. Anz. III 1892, 163); auf unteritalischen Vasen: 24) Krater, Aufbewahrungsort unbekannt (Arch. Ztg. II 1844, 351). 25) ‚lancella‘, einst bei Barone in Neapel (Bull. d. Inst. 1862, 129). 26) Lekythos aus Eretria, im Nationalmuseum zu Athen (Δελτίον ἀρχ. 1889 σ. 101 ἀρ. 10). Auf einer Reihe anderer Vasen hat B. die Jungfrau bereits ergriffen und trägt sie mit sich fort; so auf Vasen des strengen Stils: 27) Spitzamphora im Berl. Mus. 2165 (Gerhard Etr. u. Camp Vasenb. Taf. 26–29). 28) Deinos in München 376 (Mon. inéd. publ. par la Sect. franç. de l’Inst. arch. pl. XXII. XXIII); auf Vasen des schönen Stils: 29) Oinochoe des Louvre (Mon. grecs I 1874 pl. 2). 30) Vase in Figurenform im Berl. Mus. 2906 (Stephani Boreas u. d. Boreaden Taf. I. Wiener Vorlegebl. II 9, 4). 31) Replik derselben Vase aus Tanagra in Athen (Athen. Mitt. 1882 Taf. XII); auf unteritalischen Vasen: 32) schlanke Prachtamphora in Neapel, Mus. Naz. 3220 (Ann. d. Inst. XV 1843 tav. Ο nr. S). 33) Kanne Durand 212 (Raoul-Rochette Mon. inéd. pl. XLXV A). 34) Vase unbekannter Form, einst in der Samml. Amati zu Potenza (Bull. d. Inst. 1853, 162). Die Gruppe allein ohne Nebenfiguren sieht man auf den Vasen 3. 10. 11. 19. 20. 21. 24. 25. 26. 29–34; dabei Athena 6; Hermes 7; gewöhnlich sind eine (5. 8. 14. 18. 22. 23) oder mehrere (zwei: 1. 4. 9. 13. 15. 16. 17; vier: 2. 12. 27. 28) entsetzt fliehende Gefährtinnen anwesend, auch einer (8. 17) oder mehrere (zwei: 1. 2. 27. 28; drei: 12) Männer (ein Jüngling: 16), welche die Botschaft vom Raube empfangen. Die Mädchen werden wohl am natürlichsten als die Schwestern der Oreithyia aufzufassen sein; auf der einzigen mit Inschriften versehenen Vase 28 (die Berliner Vase 27 benennt nur B. und Oreithyia) heissen sie Herse, Pandrosos, Aglauros (der vierte Name unleserlich); es sind also die Kekropiden, und so scheint Oreithyia hier als Tochter des Kekrops angesehen zu werden (dieselbe Angabe im Schol. Apoll. Rhod. I 211, s. o.). So ist auch Kekrops selbst und sein Vater Erechtheus, beide inschriftlich bezeichnet, anwesend; ebenso werden wir auf den übrigen Vasen die Männer zu benennen haben (wo nur einer erscheint, eher Erechtheus, auf 16 Kekrops; den auf 12 erscheinenden dritten Mann weiss ich nicht zu benennen). Blumen pflückend ist Oreithyia im Moment des Raubes gedacht auf 5. 9; Ball spielend auf 17. 20; Wasser holend auf 14. 15; sie flieht auf einen Altar zu (nach Stephani proleptisch der des B.! vielleicht durch [729] den beidemal daneben erscheinenden Lorbeerbaum als der des Apollon Pythios am Ilisos bezeichnet?) auf 5. 33; zweifelhaft ist die Deutung von 19: dort verfolgt ein geflügelter Jüngling (doch scheint nach dem überaus langen Kinn, welches die Abbildung giebt, ein Bart entweder vorhanden oder ursprünglich vom Maler beabsichtigt) ein Mädchen mit blossem Schwert (Heydemanns Deutung ‚ein Boreade verfolgt ein Mädchen‘ ist nicht genügend begründet; ein Schwert führt B. auch auf 27); irrig deutet Welcker 32. 33 auf Thanatos, Stephani (a. a. O. 23. 26) 21. 30 auf Butes und Koronis.

B. ist auf den Vasen gewöhnlich als Mann mit wirrem Bart und Haar dargestellt; das Haar erscheint nass auf 3. 8. 13, borstenartig gesträubt auf 26–28, der Bart auf 2; bartlos ist B. auf 19 (?). 21. 30. 31; eine Adlernase hat er auf 20. 27. Stets hat B. mächtige am Rücken oder an den Schultern ansetzende Flügel; bisweilen auch Fussflügel (3. 5. 6. 8. 11. 14. 15. 27); er eilt durch die Luft dahin auf 1 (?). 2. 5. 14. 15. 20. Völlig unbekleidet finden wir ihn nur auf 32; gewöhnlich trägt er einen kurzen Chiton (2. 3. 5. 6. 8–12. 15–18. 20. 21. 25. 26. 28–31) und Stiefel (3. 6. 8. 13. 14. 16. 27. 29. 30. 31. 33), auch eine Chlamys (19. 27–29. 33) oder ein shawlartiges Gewandstück (2. 3. 5. 27); ein Diadem hat er auf 2. 9, eine Binde auf 3. 17. 20, einen Kranz auf 5. 6. 10. 16. 21. 23. 25; in thrakischem Costüm erscheint er auf 4. 13. 14. 30. 31. Auffallend ist, dass er auf 2 einen ianusartig nach zwei Seiten blickenden Doppelkopf hat; diese Darstellung hat bis jetzt noch keine befriedigende Erklärung gefunden (Erklärungsversuche s. Mayer Gig. u. Tit. 116. Rapp Roschers Lex. I 809). Fälschlich auf B. gedeutet ist das Bild einer rf. Hydria in Neapel, Mus. Naz. 2912 (von Stephani a. a. O. 25, 1 wohl richtig auf Butes und Koronis gedeutet) und die Rückseite einer panathenaeischen Amphora (Mon. d. Inst. VI 10. Welcker Alte Denkm. Taf. XXI).

In einer Scene des Odysseusmythos ist B. dargestellt auf einem schwarzfigurigen Becher des sog. Kabirionstils, gefunden in Theben, jetzt aus der Sammlung von Branteghesse (Froehner nr. 210) in das Ashmoleon-Museum zu Oxford gelangt, abg. Percy Gardner Museum Oxoniense pl. 26 nr. 262: Ὀλυσεύς, mit Phallos, Maske, Chlamys und Dreizack, fährt auf einem aus zwei Spitzamphoren gebildeten Floss über das Meer (Fische darin) nach links; in der rechten oberen Ecke erscheint die bärtige Maske des Βορίας (sic) mit gesträubtem Borstenhaar und aufgeblasenen Backen (Rückseite: Kirke von Odysseus bedroht).

B.-Aquilo trägt die schwangere Leto auf Zeus Befehl nach Delos, auf dem Mosaik von Portus Magnus, vgl. Robert Arch. Jahrb. V 1890, 215ff.

Ausser den Vasenbildern kennen wir von B.-Darstellungen nur 1) ein schönes Bronzerelief (Henkelansatz einer Hydria) aus Kalymna im Brit. Mus. (abg. Newton Travels in the Levant I pl. 15. Wiener Vorlegebl. II 9, 3): B., mit dichtem Haar und Bart (kurzer Chiton, Chlamys, Stiefel), geflügelt, trägt im linken Arm Oreithyia, deren rechte Handwurzel er mit seiner Rechten fasst; 2) sehr ähnlich in der Compositio das von Furtwängler (Arch. Ztg. XL 1882, 339ff.) glücklich [730] recenstruierte Giebelakroterion vom Athenatempel auf Delos; hier hat sich, wie Loeschcke (a. a. O. 3) bemerkt hat, in der Figur eines kleinen vor der Gruppe hineilenden Rosses, das ähnlich wie die Tiere bei Peleus-Thetisdarstellungen eine Verwandlungsform der Oreithyia anzudeuten bestimmt ist, ein Hinweis auf die ursprüngliche Nereidennatur derselben erhalten; 3) Bronzerelief (Spiegelkapsel) aus Eretria, im Nationalmuseum zu Athen [Δελτίον ἀρχ. 1889, 141, 16). Β. (bärtig, nackt, geflügelt) packt Oreithyia mit der Linken um die Mitte des Körpers und fasst mit der Rechten die Hand der Widerstrebenden.

Endlich ist B. auch allein dargestellt an dem sog. Turm der Winde in Athen (s. oben Bd. I S. 2167f., abg. Brunn-Bruckmann Denkm. Taf. 30): bärtig, mit wirrem, feuchtsträhnigem Haar, mit mächtigen Rückenflügeln versehen, fliegt er durch die Luft, angethan mit kurzem Chiton und Stiefeln; mit der Linken fasst er das bogenförmig flatternde Gewand der Windgötter, mit der Rechten hält er eine Muscheltrompete.

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