ART

Potnia theron (altgriechisch Πότνια ϑηϱῶν ‚Beherrscherin des Wildes‘)[1] war eine weibliche Gottheit aus der Antike, die als Herrin der wilden Tiere, aber auch Fabelwesen und Zwittergestalten,[2] auftrat und für den Schutz der wild lebenden Tiere zuständig war. Der Begriff tritt erstmals bei Homer auf, im 21. Buch der Ilias, Vers 470, und wird dort mit der Göttin Artemis gleichgesetzt.

Ilias
Apollon und Artemis, Medaillon auf einem Attischen Krug

In Homers Ilias wendet sich Artemis an ihren Zwillingsbruder Apollon, der einem Kampf mit Poseidon ausweicht, den er nicht um der „Sterblichen“ willen zu führen gedenkt. Die Verse 470 bis 477 des 21. Gesangs lauten im griechischen Originaltext und der deutschen Übersetzung von Thassilo von Scheffer (Potnia theron im griechischen Originaltext zur Verdeutlichung in grüner Schrift):[3]

τὸν δὲ κασιγνήτη μάλα νείκεσε πότνια ϑηϱῶν
Ἄϱτεμις ἀγϱοτέϱη, καὶ ὀνείδειον φάτο μῦϑον·
φεύγεις δὴ ἑκάεϱγε, Ποσειδάωνι δὲ νίκην
πᾶσαν ἐπέτϱεψας, μέλεον δέ οἱ εὖχος ἔδωκας·
νηπύτιε τί νυ τόξον ἔχεις ἀνεμώλιον αὔτως;
μή σευ νῦν ἔτι πατϱὸς ἐνὶ μεγάϱοισιν ἀκούσω
εὐχομένου, ὡς τὸ πϱὶν ἐν ἀϑανάτοισι ϑεοῖσιν,
ἄντα Ποσειδάωνος ἐναντίβιον πολεμίζειν.

Aber da schalt ihn bitter die Schwester, die Herrin des Wildes,
Artemis, die die Fluten durcheilt, und schmähend begann sie:
»Wirklich, o trefflicher Schütze, du fliehst, und läßt dem Poseidon
Völlig den Sieg und läßt ihm leichterrungene Ehre?
Tor, warum nur trägst du deinen Bogen so zwecklos?
Daß ich dich nur nicht künftig im Saal des Vaters vernehme
Prahlenden Wortes wie einst im Kreise der ewigen Götter:
Wider Poseidon würdest du mutig im Kampfe dich wenden.«
Deutung
Fresko der Potnia Theron aus Akrotiri auf der Insel Santorin
Ägyptisch beeinflusster minoischer Goldanhänger aus dem 15. Jahrhundert v. Chr. mit einem mutmaßlich männlichen Herrn der Tiere mit zwei Gänsen und vier Schlangen über drei Lotusblüten, gefunden auf der Insel Ägina
Potnia theron auf einem Gefäß von der Insel Delos um 620 B.C.

Archäologen, Kultur- und Religionswissenschaftler übertrugen den Begriff auf eine Göttin aus der minoischen Kultur (ca. 2000 v. Chr. bis ca. 1400 v. Chr.). Aus der Neupalastzeit (1700 bis 1450 v. Chr.) wurden Halsketten und Diademe mit Abbildungen der Potnia theron und Seepolypen in Kato Zakros gefunden. Als einziges erhaltenes Wandbild, auf dem die Potnia theron dargestellt ist, gilt ein Fresko aus dem bronzezeitlichen Akrotiri auf Santorin, auf dem sich die Göttin in Begleitung eines Affen und eines Greifen befindet.[4]

Weitere Übertragungen fanden auf andere Göttinnen statt, die zusammen mit Tieren abgebildet wurden und Macht über diese zeigen. Darunter sind Abbildungen auf den Ägäis-Inseln aus der Archaik, die ebenfalls als Potnia theron bezeichnet werden.

Die Potnia theron wurde in der Mythologie der klassischen Antike mit der Göttin Artemis gleichgesetzt, in der römischen mit der Diana und in der etruskischen mit Artumes.

Ein männliches Äquivalent ist der Herr der Tiere, der in der minoischen Kultur und in verschiedenen weiteren vorkommt und auch mit dem Gehörnten Gott identifiziert wird.
Linear B

Der Kernbestandteil des Namens Potnia, was in etwa Muttergottheit bedeutet; in Knossos und Pylos wurden mehrere Tafeln in Linearschrift B mit verschiedenen weiteren Attributen entdeckt:

po-ti-ni-ja (= Potnia)
a-ta-na po-ti-ni-ja und da-pu-ri-to-jo po-ti-ni-ja (= Atana Potnia)
a-si-wi-ja (= Potnia Aswia)
po-ti-ni-ja i-qe-ja (= Potnia Hikkweia oder Potnia Hippeia)

Siehe auch

Herr der Tiere, eine Gottheit nomadischer Jäger und Sammler, der die Rolle zugeschrieben wird, für die Erhaltung des jagbaren Wildes zuständig gewesen zu sein.

Literatur

Salomo Luria: Vorgriechische Kulte in den griechischen Inschriften mykenischer Zeit. In: Minos: Revista de filología egea. Nr. 5. Consejo Superior de Investigaciones Cientificas, 1957, ISSN 0544-3733, S. 45 ff. (dialnet.unirioja.es [PDF] über Potnia).
John Chadwick: Potnia. In: Minos: Revista de filología egea. Nr. 5. Consejo Superior de Investigaciones Cientificas, 1957, ISSN 0544-3733, S. 117–129 (gredos.usal.es [PDF; 787 kB] über Potnia).
Chryssanthos A. Christou: Potnia Theron. Eine Untersuchung über Ursprung, Erscheinungsformen und Wandlungen der Gestalt einer Gottheit. Thessaloniki 1968.
Martin Guggisberg: Vogelschwärme im Gefolge der Grossen Göttin. Zu einem Drillingsvogelgefäß der Sammlung Giamalakis. In: Antike Kunst 41, 1998, S. 71–86.
Robert Laffineur, Robin Hägg (Hrsg.): Potnia. Deities and Religion in the Aegean Bronze Age (Proceedings of the 8th International Aegean Conference Göteborg, Göteborg University, 12.–15. April 2000; Aegaeum 22). Bopen 2001
Christoph Auffarth: Potnia theron. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 10, Metzler, Stuttgart 2001, ISBN 3-476-01480-0, Sp. 335–337.
Kristin Schuhmann: Die Schöne und die Biester. Die Herrin der Tiere im bronzezeitlichen und früheisenzeitlichen Griechenland. Magisterarbeit. Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg März 2009, doi:10.11588/propylaeumdok.00000378 (archiv.ub.uni-heidelberg.de [PDF; 2,7 MB; abgerufen am 20. Februar 2014]).

Einzelnachweise
Wilhelm Pape, bearbeitet von Maximilian Sengebusch: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Griechisch-deutsches Handwörterbuch. 3. Auflage. Band 2. Vieweg & Sohn, Braunschweig 1914, S. 690 (zeno.org [abgerufen am 8. Februar 2014]).
Schuhmann: Die Schöne und die Biester …. 2009, S. 15.
Homer: Ilias. Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, Einundzwanzigster Gesang, S. 504 (griechisch: Ἰλιάς. Übersetzt von Thassilo von Scheffer).
Schuhmann: Die Schöne und die Biester …. 2009, S. 10.

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